»Das System liefert nicht«
Brauchen wir neue Beteiligungsformate in der Demokratie?
Von Paula Böhnke und Franka Weiß
Vier von zehn Deutschen sind mit dem Funktionieren der Demokratie hierzulande unzufrieden. Im Osten ist es sogar jeder Zweite, belegen Zahlen des Deutschland Monitor 2024. “Menschen haben das Gefühl, dass das politische System, in dem sie leben, nicht liefert; also ihr Leben nicht einfacher macht, ihre wirtschaftliche Situation nicht verbessert oder mehr Chancengleichheit herstellt”, erklärt OSI-Professor Philipp Lepenies. Alle Menschen sollten merken, dass in der Demokratie ständig daran gearbeitet wird, dass es für alle immer etwas besser wird. Ohne jedoch in die Erwartungshaltung zu verfallen, dass Demokratie dafür da ist, jeden dauerhaft glücklich zu machen, ergänzt Lepenies.
OSI-Professorin Miriam Hartlapp sieht eine mögliche Ursache des aktuellen Demokratieverdruss in mangelnder Repräsentation in politischen Institutionen: „Ein zu homogener Bundestag – zu weiß, zu männlich, zu alt – blendet zentrale Lebensrealitäten in der Politikgestaltung aus.“ Perspektiven aus migrantischen Milieus, der Arbeiterschicht oder jungen Lebenswelten fehlen oft. Und wenn politische Entscheidungen immer wieder an der Realität vieler Menschen vorbeigehen, verfestigt sich der Eindruck, dass “das System nicht liefert“. Dieses Gefühl der unzureichenden Repräsentation bezeichnet Hartlapp als „eine der größten Herausforderungen für die Demokratie“.
Eine Antwort auf diese Herausforderung könnten Bürger:innenräte bieten. Dort erarbeiten zufällig ausgeloste und anschließend repräsentativ für die deutsche Bevölkerung zusammengesetzte Bürger:innen unter professioneller Moderation Empfehlungen für die Politik. Die Idee klingt vielversprechend: Mehr Perspektiven einbeziehen, mehr gesellschaftliche Repräsentation, mehr Nähe zur Realität der Bürger:innen. In anderen Ländern gibt es schon Beispiele: Irland führte eine “Citizens’s Assembly” zur Empfehlung einer Reform des Abtreibungsrechts ein, über die die Bevölkerung per Referendum abstimmen konnte. In der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens ist ein permanenter “Citizen Council” gesetzlich verankert, zu dessen Vorschlägen gewählte Repräsentant:innen verpflichtend Stellung nehmen müssen. Das bedeutet unmittelbare Demokratieerfahrung. Wer einmal selbst erlebt habe, wie mühsam demokratische Aushandlung sein kann, erwarte seltener, dass “‘die Politik’ einfache Lösungen liefert”, so Lepenies.
Doch es bestehen auch Zweifel an diesem Konstrukt: “Ist es Menschen wichtig, Teil eines Prozesses zu sein? Oder ist es den Menschen wichtiger, dass geliefert wird?” fragt Lepenies. Für ihn bleibt es die Aufgabe von gewählten Repräsentant:innen, Politik so zu gestalten, dass die Bürger:innen den Mehrwert spüren und damit nicht das Vertrauen in die Demokratie verlieren. Außerdem stellt er die Frage nach der demokratischen Legitimation von Bürger:innenräten. ”Was legitimiert eigentlich eine Gruppe von Bürger:innen, etwas zu sagen – und andere nicht? Ist ein Losverfahren wirklich zielführend? Oder sollten da Leute sitzen, die etwas davon verstehen?” Hartlapp gibt zu bedenken, dass Hürden wie Arbeitszeit, Bildungsniveau oder Betreuungspflichten zu einer neuen Privilegierung für die Teilnahme an Bürger:innenräten führen können. So bleiben die’‘klassischen’ Wahlen „immer noch das Instrument, das am wenigsten politische Ungleichheit produziert und das alle anderen demokratischen Innovationen schlägt, wenn es um Partizipation geht”.
Hartlapp und Lepenies sind sich einig: Partizipative Innovationen können die Demokratie stärken, ein ultimatives Heilmittel stellen sie jedoch nicht dar. Wichtiger sei es, das Erfahren und Erlernen der demokratischen Prozesse frühzeitig zu beginnen: “Wir müssen lernen, Demokrat:innen zu sein”, sagt Lepenies. Die Leute müssten sich wieder mehr miteinander verbinden, auch außerhalb von politischen Kontexten, etwa in Vereinen. Denn wenn sich Menschen untereinander assoziieren, sei das der Boden, auf dem Demokratie wachsen könne.
Demokratie ist also nie fertig. Sie ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Und es gibt immer Stellschrauben, an denen wir drehen können: Seien es neue Beteiligungsformate wie Bürger:innenräte, Amtszeitbegrenzungen, eine stärkere politische Bildung oder den Mut, die bestehenden Strukturen zu hinterfragen.
Prof. Dr. Miriam Hartlapp:
Miriam Hartlapp ist Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Deutschland und Frankreich am OSI und Vizepräsidentin des Instituts für Europäische Politik. Sie studierte Soziologie, Politik, Wirtschaft, Geschichte und Literatur in Osnabrück und Madrid. Nach ihrem Studium arbeitete sie beim Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und für die International Labour Organization in Genf. Seit 2018 lehrt und forscht sie am OSI, aktuell mit dem Fokus auf vergleichende Staatstätigkeit, Konflikten im EU-Mehrebenensystem und Fragen der Repräsentation.
Prof. Dr. Philipp Lepenies:
Philipp Lepenies ist Wirtschafts- und Politikwissenschaftler und seit 2022 Professor für Politik mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit und Leiter des Forschungszentrums für Nachhaltigkeit FFN am OSI. Er studierte an der FU und der London School of Economics und arbeitete 10 Jahre als Projektmanager und Prokurist für die KfW-Entwicklungsbank. Er schrieb mehrere Bücher. Sein neuestes heißt “Souveräne Entscheidungen – Vom Werden und Vergehen der Demokratie”, das sich mit den Wegmarken der Demokratiegeschichte und den Lehren daraus befasst.




