Europa und die Staatsschulden

Viele Herausforderungen und wenige Lösungen

VON CHRISTINA AUGUSTIN, JAN BREUNIG UND CLAIRE SAUTREAU

Staatsschulden sind ein Thema, mit dem die meisten europäischen Regierungen ringen. Neben einer starren, in der Verfassung festgeschriebenen Schuldenbremse – wie es in Deutschland der Fall ist – gibt es weitere Ansätze, mit diesem Problem umzugehen. Gerade deshalb lohnt der Blick auf die Staatsschulden unserer europäischen Nachbarn. 

Frankreich: Ein Sozialstaat auf Pump

Mit über 3 Billionen Euro Schulden ist Frankreich europäischer Tabellenführer. Diese Zahl sei deshalb so hoch, weil der Staat zu viel ausgegeben habe, um vor allem Sozialausgaben zu finanzieren, erklärt uns Felix Syrovatka, OSI-Absolvent Jahrgang 2017. Der Sozialstaat habe einen hohen Stellenwert in der französischen Politik. Außerdem wurden die Terroranschläge 2015 als Sondersituation ausgewiesen, für die zusätzliche finanzielle Mittel aufgebracht werden mussten.  Deswegen habe sich Frankreich entschieden, die 3% Neuverschuldung, die von der EU vorgegeben werden, zu reißen und massiv in Sicherheit und Militär zu investieren. Dadurch geriet das Land in ein sogenanntes Defizitverfahren.

Instabilität und Zentralismus: Frankreichs doppeltes Problem

Die Parteienlandschaft Frankreichs hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Zur Stabilität des Landes hat das nicht beigetragen. Hinzu kommt die in der Gesellschaft verankerte Idee, dass höhere Löhne zu höherer Nachfrage und dadurch zu mehr Konsum von französischen Gütern führen. Daher richtet sich der Diskurs in Frankreich auf die Kaufkraft, statt auf Löhne, wie in Deutschland. Während Rechtspopulisten von einem “Diktat von Brüssel” reden, das diese Kaufkraft beschränkt, betrachtet die radikale Linke die EU und ihre technokratische Schuldenregel als eine Einschränkung ihres politischen Spielraums.

Der Zentralismus spielt in der gesellschaftlichen Debatte eine weitere Rolle. Er wird von Populisten ins Spiel gebracht, um den Kontrast zwischen Paris und der Provinz, zwischen den Eliten und dem Volk hervorzuheben. “In Paris konzentriert sich alles, Paris ist das Zentrum, weil da der ausgabefreudige Staat ist. Der Bürgermeister einer kleinen Stadt kann nicht mal eine Brücke bauen, ohne dass er den Zentralstaat in Paris fragen muss”, erklärt Syrovatka. Ihr unterschiedliches Ausgabeverhalten betrachten Frankreich und Deutschland gegenseitig skeptisch. Eine mögliche Dissonanz innerhalb des deutsch-französischen Motors, die negative Auswirkungen auf ganz Europa haben kann.

Italien: Zwischen Schulden und europäischer Hilfe

Auch Italien ist massiv verschuldet. 2023 betrug die Staatsverschuldung 134,8% des BIP. Damit ist Italien nach Griechenland das Land mit der zweitgrößten relativen Staatsverschuldung in der Eurozone. Da das Land in der Vergangenheit öfter die Maastricht-Kriterien missachtete, läuft ein Defizitverfahren.

Trotzdem wurde ein Weg für neue Investitionen gefunden. Für den Aufbau- und Resilienzplan Italiens werden z.B. schrittweise rund 192 Milliarden Euro aus dem “Next Generation EU”-Aufbauplan ausgeschüttet (davon 69 Milliarden als Zuschüsse und 123 Milliarden als Darlehen). “Next Generation EU” stellte nach der Corona-Pandemie einmalig 807 Milliarden Euro für Investitionen, besonders in eine grüne Wende und verringerte Krisenanfälligkeit der Union, bereit. Dafür wurde die EU bemächtigt, bis zu 750 Milliarden Euro Schulden aufzunehmen. Normalerweise ist die Aufnahme eigener Schulden durch die EU nicht zulässig, nur in Anbetracht der Nachwirkungen der Corona-Pandemie wurde es ermöglicht. Im Falle Italiens sollen diese Gelder vor allem in die Digitalisierung und Modernisierung der Infrastruktur fließen.

Die Regierung in Rom nutzte also einmalig diese EU-Fördermittel, um trotz der hohen Verschuldung auch weiterhin notwendige Investitionen zu ermöglichen.  Dieses Vorgehen könne für Deutschland aber nicht als Vorbild dienen, sagt Giacomo Corneo, Professor für öffentliche Finanzen am wirtschaftswissenschaftlichen Institut der FU. Die Gelder aus dem einmaligen Aufbauplan seien bereits verteilt. Außerdem zahle Deutschland niedrigere Zinsen als die EU. Die Aufnahme von Schulden durch die EU für deutsche Investitionen wäre also ein „politisch und finanzwirtschaftlich kostspieliges Tauschmanöver.”

Spanien: Eine Schuldenbremse mit Folgen

Auch Spanien hat – wie Deutschland – die Schuldenbremse in seine Verfassung aufgenommen. Allerdings eine “Schuldenbremse spanischer Art”. Diese besagt unter anderem, dass Spanien nicht mehr als 60% des BIP Gesamtverschuldung und eine jährliche Neuverschuldung nicht höher als 0,4% des BIP haben darf, und die Rückzahlung der Schulden als Priorität angesehen wird. Allerdings sollten diese Maßnahmen zeitversetzt eintreten, um dem Land genug Zeit zu geben, die Staatsschulden zu verringern. Die Verfassungsänderung erntete jedoch viel Kritik. Drei Wochen lang demonstrierten große Teile der spanischen Bevölkerung gegen die neue Regelung.

Doch nicht alle europäischen Länder sehen sich mit finanziellen Schwierigkeiten und einem immer weiter wachsenden Schuldenberg konfrontiert.

Norwegen: Viel Öl und ein prall gefülltes Sparschwein

Das reiche Norwegen hat zwar Schulden – derzeit über 600 Milliarden Kronen, das sind ungefähr 52 Milliarden Euro. Dennoch sagt die ehemalige norwegische Bildungsstaatssekretärin und OSI-Alumna Rebekka Borsch: „Norwegen hat kein Schuldenproblem, Norwegen hat ein Sparschweinproblem.“

Mit dem „Sparschwein“ ist Norwegens Staatlicher Pensionsfonds, oft Ölfonds genannt, gemeint. In dem Fonds werden seit den 1990er Jahren die staatlichen Öleinnahmen langfristig angelegt. Dies sorgt für Stabilität und Generationengerechtigkeit. Mittlerweile ist er 20 Billionen norwegische Kronen oder 1,7 Billionen Euro wert. Das übersteigt deutlich die Verschuldung des Landes. 

Trotzdem nimmt Norwegen Schulden auf, zum Beispiel zur Finanzierung staatlicher Kreditinstitute, die ihrerseits Darlehen an Privatpersonen und Unternehmen vergeben. Trotz dieser strategischen Verschuldung ist die Neuverschuldung aber stets auf einem sehr niedrigen Niveau. „Staatsschulden sind eigentlich kein Diskussionsthema bei uns”, erklärt Rebekka Borsch. 

Als Mitglied des europäischen Wirtschaftsraums ist Norwegen eng an die Europäische Union und große Teile ihrer Gesetzgebung gebunden, in der Finanzpolitik ist das Land aber unabhängig. Daher muss es die Maastricht-Kriterien nicht einhalten. 

Obwohl Norwegen also  keine Schulden zur Deckung des Staatshaushalts aufnehmen muss und keine „Schuldenbremse“ oder EU-Schuldenvorgaben kennt, gibt es eine wichtige Regel bei der Planung des Staatshaushalts: die sogenannte „Handlingsregel“. Nach dieser Verfahrensregel dürfen jedes Jahr höchstens 3% des Wertes dem Ölfonds entnommen werden. Dies entspricht in etwa der erwarteten Rendite. “Hier stoßen diese beiden Grundinteressen ‘kurzfristiger Bedarf’ und ‘Geld versus Generationenfrage’ aneinander”, erklärt Rebekka Borsch. Es gäbe immer wieder Vorschläge, mehr Geld aus dem Ölfonds zu entnehmen, um beispielsweise die Infrastruktur im dünn besiedelten Norden zu verbessern. Dennoch bestünde ein parteiübergreifender Konsens, dass die Handlingsregel beibehalten wird, um auf lange Sicht immer finanziellen Spielraum zu garantieren. Außerdem bestehe die Gefahr, dass die Inflation angetrieben wird, wenn zu viel Geld aus dem Fonds in den Umlauf kommt. „Zu viel Geld macht eben auch nicht glücklich“, schlussfolgert Rebekka Borsch.

Wenig Spielraum für Experimente in Deutschland

Anhand dieser Beispiele wird deutlich: auch in anderen europäischen Ländern findet sich keine einfache Lösung für den Umgang mit Staatsschulden. Frankreich, Spanien, Italien und Norwegen haben eigene Antworten für die individuelle Lage ihrer Länder gefunden. Die starre Schuldenbremse deutscher Art ist in anderen EU-Ländern nicht die Norm. Der wirtschaftspolitisch stark begrenzte Spielraum, der der  deutschen Regierung bei ihrer Ausgabenpolitik damit bleibt, schafft zwar Disziplin, aber nimmt dem Land Wachstums- und Erneuerungsmöglichkeiten.

Rebekka Borsch:

Vom OSI führen die Wege in alle Welt – für Rebekka Borsch in das Land der Fjorde. Zwischen 2001 und 2004 studierte sie Journalistik und Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut, bevor sie nach Norwegen auswanderte. Dort schloss sie sich der sozialliberalen Partei Venstre an und war von 2018 bis 2020 als Staatssekretärin im Bildungsministerium tätig. Heute arbeitet sie in der  Confederation of Norwegian Enterprise (NHO), die sie als eine „Mischung aus Arbeitgeberverband, Industrieverband, Verband für kleine Unternehmen“ beschreibt. Als Abteilungsleiterin für Kompetenz und Innovation liegt ihr Schwerpunkt vor allem auf den Themen Forschung, Bildung und Digitalisierung.

Dr. Felix Syrovatka:

Felix Syrovatka hat 2017 sein Studium der Politikwissenschaft (im Doppelmaster mit der SciencesPo Rennes) am OSI abgeschlossen. Anschließend promovierte er in Tübingen über europäische Arbeitspolitik. Bis 2024 betreute er das Projekt „Gerechtigkeit durch Tarifvertrag“ an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der FU und forschte zur deutschen und französischen Arbeits- und Wirtschaftspolitik. Zurzeit arbeitet er in Bremen an einem Forschungsprojekt des Institutes für Arbeit und Wirtschaft.

Professor Dr. Dr. Giacomo Corneo

Giacomo Corneo studierte VWL an der Universität Bocconi in Mailand, promovierte in Politischer Ökonomie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris und habilitierte sich 1997 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit 2004 ist er Professor am wirtschaftswissenschaftlichen Institut

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