Investitionsstau vs. Haushaltsdisziplin
Zerbricht Deutschland an der Schuldenbremse?
VON MILICA CIKUSA, SIMON RÖHRICHT UND FLORIAN RICHTER
Für die einen ist sie Garant wirtschaftlicher Stabilität, für die anderen Grund der wirtschaftlichen Stagnation: die in der deutschen Verfassung festgeschriebene Schuldenbremse. Deutschland ist mittlerweile Schlusslicht unter den sieben größten westlichen Wirtschaftsnationen in Sachen Wirtschaftswachstum. Die Industrie klagt über zu hohe Energiepreise, der Frust wächst über einen enormen Investitionsstau. Experten sind sich einig, dass gewaltige Summen zumindest in die öffentliche Infrastruktur, die Verteidigung, den Klimaschutz und die Digitalisierung fließen müssen. Ist die strikte Begrenzung der Neuverschuldung also ein notwendiges Instrument finanzieller Disziplin – oder steht sie unumgänglichen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit Deutschlands im Weg?
Plädoyer für eine Grün-Goldene-Regel
“Es gibt massive Investitionsbedarfe und die Schuldenbremse, so wie sie im Moment formuliert ist, verhindert diese Investitionen”, sagt Thomas Rixen, Professor für Internationale und Vergleichende Ökonomie am OSI. “Es scheint ausgeschlossen, dass eine neue Regierung die Schuldenbremse einhält.” Dabei denke er vor allem an die grüne Transformation, die “nicht in dem Maße stattfindet, wie sie stattfinden müsste.” Dieses langfristige Problem dürfe nicht von aktuellen Krisen, wie dem Ukraine-Konflikt, verdrängt werden. Rixen plädiert für eine Grün-Goldene Regel: eine Modifizierung der so genannten Goldenen Regel, die besagt, dass der Staat Kredite nur für Investitionen aufnehmen darf.
Grüne Perspektive: Reform als Weg aus der Krise
Robert Heinrich, Leiter des Leitungs- und Koordinierungsstabs im Bundeswirtschaftsministerium und Absolvent des OSI-Jahrgangs 2003, spricht sich ebenfalls für eine Reform der Schuldenbremse aus. Zwar sei diese „grundsätzlich eine vernünftige Institution“. „Die Annahme, dass der Staat mit dem Geld auskommen muss, das er hat, ist eine Frage der Nachhaltigkeit, der Generationengerechtigkeit“, betont Heinrich. Dennoch hält er eine Reform für unumgänglich. Ein Problem sei die Starrheit der Schuldenbremse. Zudem habe man einen immensen Bedarf an Sondervinvestitionen. Heinrich nennt hier die Transformation zur Klimaneutralität, die Digitalisierung und die Sicherheit als die wichtigsten Komponenten und betont den Investitionsstau in den Kommunen. Man habe „Raubbau“ an der Infrastruktur betrieben. Das aus dem laufenden Haushalt zu finanzieren, „würde den sozialen Frieden in Deutschland gefährden“, warnt Heinrich. Damit vertritt er die Linie seiner Partei zur Schuldenpolitik. In einem Beschluss vom Bundesparteitag der Grünen im November 2024 heißt es, das derzeitige “Spardiktat” gefährde die “wirtschaftliche Zukunft” Deutschlands und behindere den Klimaschutz.
CDU: Strikte Haushaltsdisziplin bleibt oberste Priorität
Die CDU-Bundestagsabgeordnete und OSI-Absolventin Jana Schimke sieht hingegen keine Notwendigkeit für eine Reform der Schuldenbremse. “Eine Regierung muss imstande sein, notwendige Aufgaben im Rahmen des laufenden Haushalts und im Rahmen der bestehenden Einnahmen umzusetzen”, ist sie überzeugt. Dass Deutschland einen Investitionsstau hat, liege auf der Hand. „Aber wir wissen auch, dass Deutschland sein Geld nicht immer zielgerichtet ausgibt.“ Man sollte eine Wirtschaftspolitik machen, die auch private Akteure in die Lage versetzt, Investitionen zu tätigen. Dass viele Wirtschaftsexperten und Institutionen wie der Internationale Währungsfonds eine Reform der Schuldenbremse befürworten, überzeugt Schimke nicht. „Auch eine Wissenschaftslandschaft ist nicht unpolitisch und Gremien werden immer durch eine amtierende Bundesregierung besetzt“, kommentiert sie . „Zur Schuldenbremse gibt es auch in der Wissenschaft unterschiedliche Auffassungen.“
Wie genau die CDU den Investitionsstau allein durch Kürzungen beseitigen will, bleibt unklar. Politik sei immer eine Frage von Prioritätensetzung, antwortet Schimke. “Wenn wir am Ende einen Verfall in der Wirtschaft haben, eine Deindustrialisierung und steigende Arbeitslosigkeit, werden die Sozialsysteme mehr und mehr belastet”, ist sie überzeugt. Schimke gesteht ein, dass man einen Wettbewerbsnachteil habe – und der sei “hausgemacht”. “Wir sind zu teuer, zu langsam und zu überreguliert”, sagt sie. „Aber wir können nicht Fehler der Vergangenheit mit neuen Fehlern beseitigen.” Doch Schimke lässt sich auch eine Hintertür offen, spricht davon, dass sie in der Union prinzipientreu, “aber keine Betonköpfe” seien. “Wenn uns wirkliche Krisen übereilen, muss man immer imstande sein, auch anders zu denken und flexibel zu sein.” Eine Krisensituation sehe sie im Moment nicht. Das überrascht angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage.
Viel Überzeugung, wenig Konkretes
Konkret werden die beiden OSI-Absolventen mit ihren Vorschlägen nicht. Vor allem warten sie mit Überzeugungen auf – schließlich ist gerade Wahlkampf. Heinrich deutet an, dass die Grünen im Sinne der Goldenen Regel eine Schuldenbremse anstreben, die bei konsumtiven Ausgaben weiterhin strikt sei, aber bei investiven Ausgaben mehr Spielraum lasse. Ins Detail will auch er nicht gehen. Schimke betont, es gebe genügend Einsparpotenziale im Bundeshaushalt. „Wo die genau liegen, entscheidet die künftige Bundesregierung.“ Nicht nur in der Haltung zur Schuldenbremse trennen die beiden Welten. Auch ihre Wahrnehmung der Realität könnte unterschiedlicher kaum sein.
Thomas Rixen
Thomas Rixen leitet seit 2019 den Schwerpunkt Internationale und Vergleichende Politische Ökonomie am OSI. Zuvor war er sieben Jahre lang Professor für international vergleichende Politikfeldanalyse an der Otto-Friedrichs-Universität Bamberg. Er studierte Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften in Bonn, Hamburg, Paris und Michigan. Nach seiner Promotion in Bremen war er von 2007 bis 2012 Post-Doc am Wissenschaftszentrum Berlin. In seiner Forschung konzentriert er sich unter anderem auf die Bereiche Finanzmarktregulierung, (Poly-)Krise und Transformation.
Robert Heinrich
Robert Heinrich leitet seit 2022 den Leitungs- und Koordinierungsstab des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Er studierte am OSI Politikwissenschaft und arbeitete im Anschluss von 2003 bis 2018 unter anderem als Kommunikationsdirektor und Wahlkampfmanager für Bündnis 90/Die Grünen. Von 2018 bis 2021 war er Büroleiter der damaligen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck
