Schluss mit der »Betroffenheitspädagogik«

Trägt unsere Gedenkarbeit noch zum Demokratieverständnis bei?

Von JAN BREUNIG

In der Gedenkstätte Sachsenhausen fällt eine Besuchergruppe aus dem Wahlkreis von Alice Weidel 2018 mit Aktionen auf, die NS-Verbrechen relativieren. Solche Vorfälle, berichtet  Arne Pannen, Leiter der Bildungsabteilung im ehemaligen KZ, sind kein Einzelfall. Seit einigen Jahren sei Bildungsarbeit, die sich mit den Schattenseiten deutscher Geschichte auseinandersetzt, von Angriffen aus dem rechten und konservativen Lager bedroht. Erfüllt die Erinnerungsarbeit noch die Aufgabe, unser Geschichts- und Demokratieverständnis zu vermitteln? 

Arne Pannen hält seine Arbeit weiterhin für notwendig. Er weist darauf hin, dass die Themen der Erinnerungsarbeit auch heute alle Teile der deutschen Gesellschaft betreffen: „Gewalt, Rassismus oder Herabwürdigung, das sind universelle Themen, die hier verhandelt werden.“ Das spiegelten auch  Besucher:innen, die immer wieder aktuelle politische Fragen zur Sprache bringen. Nach dem 7. Oktober kämen beispielsweise mehr Äußerungen zum Konflikt zwischen Israel und Palästina ebenso wie zum Ukrainekrieg.

Auch Sabine Achour, Professorin am OSI, sieht die Gedenkarbeit weiterhin als wichtigen Bestandteil politischer Bildung. Dabei weist sie darauf hin, wie lokale Initiativen erinnerungspolitische Themen in den Vordergrund rücken könnten, die sonst eher abseits großer politischer Debatten lägen. So zeige beispielweise die  ‘Initiative 19. Februar’, die sich mit den  rassistischen Anschlägen von Hanau auseinandersetzt, wie rassistische und antisemitische Gewalt auch nach Ende des Nazi-Regimes in der BRD fortbestehe. 

Trotzdem ist es – und war es schon immer – schwierig, Menschen mit Erinnerungsarbeit zu erreichen, erläutert Arne Pannen. Er  kritisiert vor allem „erstarrte Gedenkformen“, etwa bei öffentlichen Zeremonien. Das ewig gleiche Muster von „Rede, Rede, Kranzablage“ sei nicht hilfreich, wolle man  jungen Menschen ein Verständnis der Geschichte vermitteln. Sabine Achour teilt diese Einschätzung. Formate, die den Charakter von Ritualen angenommen hätten, seien zwar starke Symbole für die politische Bildung, aber nur bedingt erfolgreich. Ähnlich verhält es sich mit historisch-politischen Bildungsansätzen, die als “Betroffenheitspädagogik” bezeichnet werden. Dies schrecke junge Menschen eher ab und belaste sie, als zum eigenständigen Nachdenken über die NS-Zeit anzuregen.

Deswegen wird in der Gedenkstätte Sachsenhausen immer mehr auf Formate gesetzt, die Besucher:innen in aktive Rollen einbinden. Vor allem  Jugendliche sollen sich mit der Frage auseinandersetzen: „Was hat das mit mir zu tun, wie ist das für mich relevant?“. Es gibt auch Versuche, Jugendliche in ihrem Alltag zu erreichen. Dafür ist die  Gedenkstätte mit einem eigenen TikTok-Account aktiv. Dort erklärt beispielsweise ein junger Mann in einem kurzen Video, wieso die Aufschrift „Arbeit macht frei“ auf dem Eingangstor zum Konzentrationslager steht – und erreicht damit 30.000 Betrachter:innen. Sabine Achour fügt hinzu, dass neben der partizipativen Gestaltung die Einbindung verschiedener Initiativen aus der Zivilgesellschaft wichtig sei. So können verschiedene Opfergruppen die vielfältigen Verbindungen zwischen Themen wie Antisemitismus und Rassismus sichtbar machen.

Um diese neuen Ansätze umsetzen zu können, wünscht sich Arne Pannen vor allem genug personelle und finanzielle Ressourcen, um allen Interessierten eine umfangreiche Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte zu ermöglichen: „Wir sind jetzt schon auf ein halbes Jahr ausgebucht. Anfragen nach Führungen und Studientagungen können wir längst nicht alle abdecken.”

Eine Erinnerungsarbeit, die Jugendliche aktiv teilnehmen lässt und auf die Unterstützung  der Politik setzen kann, wird Rechtsruck und Geschichtsvergessenheit wahrscheinlich nicht alleine stoppen. Wenn sie aber verständlich macht, wie die Vergangenheit Herausforderungen der Gegenwart beeinflusst, bleibt sie ein unverzichtbarer Bestandteil der politischen Bildung.

Arne Pannen

Arne Pannen ist Politikwissenschaftler und Leiter der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Sachsenhausen. Schon während seines Studiums interessierte er sich für die deutsche Geschichte. 2008 schloss er sein Diplom am OSI mit einer Arbeit zum Widerstand in der NS-Zeit ab. Danach fügte er noch einen Master in Erwachsenenpädagogik hinzu. Heute ist er für die Organisation der Bildungsangebote und Führungen in Sachsenhausen zuständig.

Sabine Achour

Sabine Achour ist seit 2018 Professorin am OSI für Politikdidaktik und politische Bildung. Vor ihrer wissenschaftlichen Karriere unterrichtete sie als Studienrätin Politik, Geschichte und Latein. Neben weiteren Forschungsaktivitäten ist sie Teil des Projektes “EZRA – Rassismus und Antisemitismus erinnern”, das sich mit zivilgesellschaftlichen Initiativen zum Gedenken an Kolonialismus, Nationalsozialismus und postnationalsozialistischer Gewalt auseinandersetzt.

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